Ihr Kinder der Helikopter-Eltern

Auch wenn es schon fast 40 Jahre her ist, so kann ich mich noch gut an meine Kindheit in einer Stadtwohnung erinnern. Ich lebte dort mit meiner Familie bis zum zehnten Lebensjahr in den späten siebziger Jahren. Wir Kinder durften im Hof spielen. Radfahren, Rollerfahren und generell Lärmen waren allerdings strengstens verboten. Wir mussten Rücksicht auf ältere Mitbewohner nehmen.

So wichen wir gerne auf öffentliche Fußgängerwege aus und erfreuten uns an verbotenen Spielen. Wir warfen die Zeitungsständer beim Rollerfahren um und prügelten uns mit den Jungs benachbarter Wohnblocks. Ich wuchs wie viele meiner Freunde in einer größeren Familie auf. Wir waren vier Geschwister. Mein Vater verließ frühmorgens das Haus, um seinem geregelten Beruf nachzugehen. Meine Mutter war zu Hause. Sie sagte immer voller Stolz, dass sie Mutter von vier Kindern sei. Sie kümmerte sich um uns – tagaus, tagein. Führerschein hatte sie keinen. Unsere Stadtwohnung war häufig zu klein für die Energie von vier heranwachsenden Kindern. Ein eigenes Haus zu besitzen, war immer ihr Traum gewesen. Dem ordnete sie sehr viel unter. Sparen, um sich etwas aufbauen zu können, war für uns eine vorgelebte Tugend.

Als eure Eltern Kinder bekamen, erfreuten sich die meisten von ihnen schon am beschaulichen Leben der Wohlstandsgesellschaft mit all ihren neuen Möglichkeiten. Sie wollten und wollen ihren Kindern mehr bieten! Sie versuchten, sich Zeit zu nehmen für ihre Sprösslinge, sie mitentscheiden zu lassen, sie zu bejahen, zu motivieren, zu fördern und zu loben und ihnen zu vermitteln, dass ihnen die Welt zu Füßen läge. Diese Entwicklung beobachtend, prägten Journalisten den Begriff der Helikopter-Eltern. Väter und Mütter, die mit Adleraugen über den Aktivitäten ihrer Kinder wachen, jeden Schritt kommentierend, immer mit der schützenden Hand zur Seite und sicherlich immer ein Lob auf den Lippen.

Den Wandel in den Erziehungsstilen zeigt das sogenannte „Generationen Barometer“, für das das Institut für Demoskopie Allensbach 2200 Deutsche über 16 Jahren zu ihren Kindheitserfahrungen bzw. ihrer Elternrolle befragt hat. Die Marktforscher baten sowohl meine Generation (über 45- bis 59-Jährige) als auch eure Generation, das typische Merkmal der eigenen Erziehung zu beschreiben. Annähernd jeder zweite Befragte (48 Prozent) meiner Generation gab Strenge als wesentliches Merkmal seiner Erziehung an. Dies galt nur für acht Prozent der Befragten aus eurer Generation. Dafür beschrieben 71 Prozent von euch Ypsilonern ihre eigene Kindheit als eine Zeit mit „viel Freiheit, in der man oft machen konnte, was man wollte“. Diese Erinnerung teilten nur ein Drittel der 45- bis 59-Jährigen.

Auch auf die Frage, ob sich die Befragten selbst in materiellem Wohlstand aufwachsen sahen, bietet diese Studie ein interessantes Ergebnis. Der Aussage „Meine Eltern haben mir viel geboten“ stimmten in meiner Altersgruppe nur 26 Prozent zu. Bei den Befragten aus eurer Altersklasse, den bis 29-Jährigen, waren es mehr als die Hälfte (53 Prozent). (Haumann, 2010)

Euer Heranwachsen war somit ein deutlich anderes als das meiner Generation – eines mit mehr materiellen Möglichkeiten, einer erhöhten Aufmerksamkeit von Eltern, Großeltern und Betreuern und mehr Freiheiten. In der öffentlichen Diskussion resultiert daraus leider allzu oft der Vorwurf des verwöhnten, des überbehüteten und des schlecht erzogenen Ypsiloners ohne Durchhaltevermögen. Vergleicht man euer Heranwachsen mit dem meiner Generation oder sogar noch mit jenem meiner Elterngeneration, mag das auf den ersten Blick so erscheinen. Für mich persönlich hat es eure Generation aber nicht leichter – die Herausforderungen sind nur andere geworden. Selbstverständlich habt ihr Ypsiloner Entbehrung nicht mehr so erlebt wie meine Eltern. Dafür müsst ihr lernen, aus einem permanenten Überangebot zu wählen, und zahlt den Preis für den Überkonsum der Generationen vor euch. Natürlich wurdet ihr Ypsiloner umsorgt oder sogar verhätschelt. Dafür könnt ihr euch nicht mehr auf die Stabilität eurer Familie verlassen. Und selbstverständlich wuchst ihr mit mehr Freiheiten und eigenem Willen auf, dafür müsst ihr euch bereits in jungen Jahren in einer Welt behaupten, die viel dynamischer ist, als wir sie jemals erlebt haben.

Eure Generation weiß, dass sie selbst ihres Glückes Schmied ist.