Wir diskutieren darüber, wieviel Agilität ein Unternehmen verträgt, wie wir SCRUM am besten skalieren, Führung neu verstehen und Organisationen so gestalten können, sodass möglichst wenig Reibungsverluste entstehen. Wir machen uns Gedanken über Methoden, Strukturen und Prozesse und vergessen dabei, dass diese nur dann funktionieren, wenn die Menschen, die mit und in ihnen arbeiten, stabil und selbstreflektiert sind. Wir diskutieren über Dinge, die sehr wohl wichtig sind, allerdings erst dann Früchte tragen, wenn die arbeitenden Menschen die notwendigen Kompetenzen mitbringen. Über die Bedeutung der Persönlichkeitsentwicklung, die noch nie so maßgeblich war wie in Zeiten der Agilität.

Individuen und Interaktionen mehr als Prozess und Werkzeuge

Als Ken Schwaber und Jeff Sutherland gemeinsam mit weiteren 15 Softwareentwicklern im Jahre 2001 das agile Manifest entwickelten, war die agile Idee bereits geboren. Schon 10 Jahre davor diskutierten amerikanische Wirtschaftsexperten darüber, wie man Produktivität und Kundenorientierung in der Produktion erhöhen könne, um der wachsenden Dynamik des Marktes Herr werden zu können. Agilität war auch damals bereits die Antwort, die dazu verhelfen sollte, die Anforderungen des Marktes in die Produktion zeitnah zu integrieren1. Um die Jahrtausendwende war die agile Idee in der Softwareentwicklung angekommen, die durch extrem überzogene Budgets und hohe Lieferverzögerungen gekennzeichnet war. Was Schwaber und Co mit ihrem agilen Manifest schafften, war ein tatsächlich wegweisender Wertekanon, den man später durch verschiedenste Methoden wie zum Beispiel SCRUM umzusetzen versuchte. Zu dieser Zeit glaubte man mit solider Planung jegliches Problem in den Griff zu bekommen. Funktionierte das nicht, schob man es auf unzureichende Planung, schlechtes Controlling oder mangelnde Dokumentation. Die Auswüchse dieser Denke kennen wir alle und es waren wohl sie, die Schwaber und Co. zu einem radikalen Umdenken ermutigten. „Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge“, heißt es im agilen Manifest2. Den Autoren gelang es dabei, sehr viel Grundlegendes zu berücksichtigen: Sie trugen der Tatsache Rechnung, dass es letztendlich die Menschen sind, die Wertschöpfung produzieren und Prozesse und Werkzeuge ihnen genügen müssen und nicht umgekehrt. Sie anerkannten auch den unbezahlbaren Mehrwert motivierter Mitarbeiter: „Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen“, heißt es in den Prinzipien hinter dem Agilen Manifest3.

Schwaber und Co. rückten in Zeiten der Prozessorientierung den Menschen wieder in den Vordergrund, lagen dabei aber einem wesentlichen Trugschluss auf.

Die agile Grundidee basiert auf selbstkompetenten Persönlichkeiten – die haben wir aber großteils nicht!

Dass Agilität funktioniert, haben wir alle unzählige Male erlebt. Dass SCRUM Unglaubliches bewirken kann, auch: „Dort, wo SCRUM richtig eingesetzt wird steigt die Produktivität regelmäßig um unvorstellbare 300 bis 400 Prozent“, schreibt Sutherland in seinem Buch, die SCRUM Revolution4, und ich selbst habe diese hyperproduktiven Teams gesehen. Was ich allerdings auch wahrnehme – und diese agilen Teams finden sich meiner Ansicht nach in der Überzahl – sind Teams, in denen Selbstorganisation überfordert, Entscheidungsverantwortung nicht wahrgenommen wird und Selbstreflektion nicht funktioniert. Das Problem dieser Teams liegt zumeist nicht am mangelhaften Einsatz agiler Methoden und kann deshalb auch nicht mit zusätzlichen Methodenschulungen oder noch mehr agilen Strukturen behoben werden.

Das Problem dieser Teams liegt bei den Teammitgliedern selbst, die nicht jene stabile Persönlichkeit mitbringen, von denen Schwaber und Co. in ihrem Manifest ausgegangen sind.

Ein großer Teil unserer Gesellschaft bestehe aus unerwachsenen Volljährigen, sagt der Jugendpsychiater Michael Winterhoff und meint damit keineswegs nur die jungen Generationen5. Geht es nach Winterhoff, sind wir in unserer Gesellschaft mit viel zu vielen Menschen konfrontiert, für die der Schein mehr gilt als das Sein, die versuchen Entscheidungen zu vermeiden und sich am liebsten nie festlegen würden, keine eigene Haltung haben und sich deshalb im Mainstream am wohlsten fühlen, die keinerlei Durchhaltevermögen aufweisen, noch Orientierung haben, der kurzfristigen Erfüllung ihrer Wünsche hinterherlaufen und keine Verantwortung übernehmen wollen und können6. Winterhoff stellt es drastisch dar, aber leider muss ich ihm zustimmen. Ich sehe viel zu viele Menschen, die getrieben von einem Leistungsgedanken oder verwöhnt vom Wohlstand und der Sicherheit der letzten Jahrzehnte, entweder keine Zeit hatten oder keine Notwendigkeit sahen, zuallerst an ihrer Persönlichkeit zu arbeiten, bevor sie Karriere machen oder Verantwortung übernehmen wollten. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist nicht nur eine Gesellschaft, die nicht nur von Opportunisten, sondern auch von charakterlich labilen Menschen, nicht funktionierenden Beziehungen und einer enormen Zunahme psychisch Erkrankter geprägt ist. Und diese Menschen, gleichermaßen wie die fähigen, die Schwaber und Sutherland im Kopf hatten, treffen jetzt auf agile Strukturen, die ihnen Selbstorganisation, Selbstreflexion, Konfliktfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein abverlangen.

Agiles Handeln ist reifes Handeln

Agiles Arbeiten erfordert mehr als ein Verständnis oder das Beherrschen vereinzelter Methoden. Agiles Arbeiten verlangt dem Einzelnen eine ganze Reihe von Fähigkeiten ab:

  • Agiles Arbeiten verlangt Verantwortung gegenüber dem Unternehmen: Das komplette System der Selbstorganisation fußt auf dem Grundsatz, dass Mitarbeiter bereit sind, unternehmerische Verantwortung zu tragen.
  • Agiles Arbeiten verlangt Motivation und Engagement: Die Realität sieht anders aus: fast drei Viertel der deutschen Arbeitnehmer sind ohne jegliche Leidenschaft und verspüren nach eigenen Angaben eine geringe emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber 7.
  • Agiles Arbeiten verlangt Umsetzungskompetenz und Durchhaltevermögen: Agile Arbeitsweisen sollen uns dabei unterstützen, die Dinge richtig zu tun. Dafür sind wir angehalten, Dinge zu überprüfen und anzupassen (inspect and adapt). Absolut keine triviale Aufgabe, die neben der Einschätzung seiner persönlichen Wirksamkeit (was kann ich gut oder weniger gut?) auch Willenskraft und Durchhaltevermögen fordert, wollen wir dem Zweck von Agilität, Ziele zu erreichen, nachkommen.
  • Agiles Arbeiten verlangt Kommunikationsfähigkeit: Das Agile Mindset bestätigt, was die bewährte Regel 1+1+1=4 schon immer auszudrücken versuchte: Wirklich gute Leistung erbringen wir langfristig nur im Miteinander. Voraussetzung dafür ist ein funktionierendes Miteinander, das wiederum nur dann funktionieren kann, wenn die Kommunikation stimmt – kann Kommunikation nicht professionell gelebt werden, sind agile Strukturen schlichtweg zum Scheitern verurteilt.
  • Agiles Arbeiten verlangt Reflexionsvermögen und Kritikfähigkeit: Agile Menschen müssen bereit und fähig sein, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren, Kritik zu so formulieren, dass sie meinem Gesprächspartner dientlich ist und die Demut besitzen, Kritik anzunehmen.
  • Agiles Arbeiten verlangt ehrliche gegenseitige Wertschätzung. Agiles Arbeiten meint nie isoliertes Arbeiten, sondern immer echte Zusammenarbeit im Team. Gegenseitige Wertschätzung ist die Grundlage dafür, dass das funktionieren kann.
  • Agiles Arbeiten setzt Beziehungsfähigkeit voraus: Agiles Arbeiten setzt auf Zusammenarbeit, Austausch und gegenseitiges Voranbringen. Primäre Voraussetzungen um all dies zu gewährleisten sind beziehungsfähige Menschen.

Agiles Handeln setzt eine reife Persönlichkeit voraus.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie von diesen Anforderungen lesen? Können Sie da guten Gewissens alle Fähigkeiten für sich beanspruchen? Ich persönlich muss eingestehen, dass mir viele dieser Kompetenzen absolut nicht in die Wiege gelegt wurden, ich einige von ihnen erst durch leidvolle Erfahrungen mühsam erarbeiten musste und bei anderen nach wie vor Entwicklungsbedarf habe. Diesen Entwicklungsbedarf zu erkennen und dann gezielt daran zu arbeiten, ist entscheidend dafür, ob wir uns in agilen Strukturen erfolgreich bewegen können.

Ich glaube an einen Zusammenhang zwischen der Reife einer Persönlichkeit und der Reife seines Handelns. Ich glaube, dass unser Sein unser Tun beeinflusst. Im Kontext der Agilität ist das Tun, also das agile Handeln, keine Variable. Agiles Handeln ist mehr oder weniger klar definiert: wir müssen beweglich, flexibel, anpassungsfähig, teamfähig, ergebnisorientiert, reflexionsfähig und noch vieles mehr sein. Wenden wir nun den Umkehrschluss der Aussage, dass unser Sein unser Tun beeinflusst, auf den Kontext der Agilität an, dann müssen wir feststellen, dass unser Tun von unserem Sein abhängig ist. Wir können also nur agil sein, wenn auch das Sein stimmt. Und dieses Sein ist im Kontext jener Agilität, die die höchst dynamische VUKA-Umwelt von uns fordert, für mich persönlich ganz klar eine gereifte Persönlichkeit.

Nur eine stabile, souveräne Persönlichkeit kann die Verantwortung übernehmen, die Agilität fordert, die Umsetzungsstärke und das Durchhaltevermögen aufbringen, das agiles Arbeiten mit sich bringt und die Kritikfähigkeit und das Reflexionsvermögen haben, das von einem agilen Menschen verlangt wird.

Buchtipp:
DIE AGILITÄTSFALLE

Stabil sein – Agil Arbeiten

Thomas Würzburger zeigt in der „Agilitätsfalle“ auf, welche Fehlannahmen und Fallstricke der Agilitätsbewegung zugrunde liegen und beschreibt zugleich die unerfreulichen Konsequenzen für den Menschen, wenn man Agilität zu Ende denkt. Er erzählt dabei aus seinem Erfahrungsschatz und zeigt authentisch Parallelen zwischen erlebten Eruptionen und aktuellen Disruptionen in unserer Wirtschaft.

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Die agile Evolution wird weitergehen – Agile Collaboration: Mensch und/oder Maschine?

Soweit zur Vergangenheit und Gegenwart. Was aber wird die Zukunft bringen? Unser Bestreben nach Leistungssteigerung und Effizienz wird darüber hinaus gehen, das Potential in einem jedem Menschen entfalten zu wollen.

Human Enhancement lautet die neue Bewegung, die weit über die derzeitigen Bestrebungen der New Work Idee hinausgehen und das Thema der Verschmelzung von Mensch und Maschine in den Fokus rücken wird. Ich nenne diese Zukunft „Agile Collaboration“.

In diesem völlig neuen Zeitalter, dem Zeitalter des Cyborg, des Maschine-Mensch-Mischwesens, wird der Mensch durch Maschinen ergänzt oder komplett ersetzt werden. Noch ist es nicht möglich das komplexe Wesen Mensch mit all seinen – insbesondere sozialen Fähigkeiten maschinell zu ersetzen – uns so rasch wird das auch nicht der Fall sein. Für mich erhöht diese Tatsache die Bedeutung einer fundierten Persönlichkeitsentwicklung umso mehr: In vielen Dingen wird der Computer im Punkto Effizienz über kurz oder lange die Nase vorn haben – aber nicht in allen: Empathie, Kreativität, Verantwortung, Begeisterung, ein wohlwollendes Miteinander und noch vieles mehr wird durch KI nicht ersetzt werden können. In diese Dingen zu investieren, ist eine Strategie mit Zukunft, weil sie uns letztendlich davor bewahren werden, ausgetauscht zu werden.

Warum wir agile Umsetzer brauchen und was eine stabile Persönlichkeit mitbringen muss? Das lesen Sie in meinem Buch und auch demnächst hier am Blog.


Quellen:

1 Würzburger, Thomas (2019): Die Agilitätsfalle. Vahlen Verlag, München. S. 15f

2 Beck, Kent. Et al (2001): Manifest für Agile Softwareentwicklung. Aufgerufen am 26.04.2019, https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html

3 Beck, Kent. Et al (2001): Prinzipien hinter dem Agilen Manifest. Aufgerufen am 26.04.2019, https://agilemanifesto.org/iso/de/principles.html

4 Sutherland, Jeff (2015): Die SCRUM Revolution. Management mit der bahnbrechenden Methode erfolgreicher Unternehmen. Campus Verlag, Frankfurt, S. 38.

5 Winterhoff, Michael (2015): Mythos Überforderung: Was wir gewinnen, wenn wir uns erwachsen verhalten. Gütersloh Verlagshaus: Gütersloh, S. 172

6 Härry, Thomas (2018): Die Kunst des reifen Handelns. SCM, Witten. S, 43.

7 Gallup Inc (2017): Engagement Index 2016. Pressemitteilung. Aufgerufen am 28.04.19, https://www.gallup.de/183104/engagement-index-deutschland.aspx


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