Agilität löst keine Konflikte. Im Gegenteil: sie erzeugt neues Konfliktpotential!

Wer sich dem Trugschluss hingibt, dass in agilen Strukturen keine Konflikte mehr zu lösen seien, weil man sich ja jetzt auf Augenhöhe begegne, den trifft die Realität unweigerlich ziemlich hart. Dann gilt es nämlich zu erkennen, dass wir uns auch in Zeiten der Agilität noch immer über dieselben Dinge ärgern, uns dieselben Ängste quälen und wir darüber hinaus sogar noch mit neuen Herausforderungen zu kämpfen haben. Warum? Weil die beste Agilität der Welt der DNA des Menschen nicht zu einem Sprung verhelfen kann.

Agile Romantik

Die Bilder von jungen, agilen Menschen, die bei einer Tasse Grüntee im Rahmen ihres Daily Scrums die Vorgehensweise für den nächsten Tag besprechen, sehen immer so wunderbar harmonisch aus. Jeder scheint das zu tun, was er gerne tut und das, was er wirklich gut kann, und jeder weiß um die Stärken und die Notwendigkeit des anderen. Diese Bilder spiegeln in vielen Fällen womöglich realistische Teile des Arbeitsalltags junger, agiler Teams. Lässt man sich allerdings von dieser romantischen New-Work-Blase den Blick auf die Realität zu sehr trüben, trifft einen diese umso härter, wenn nicht mehr alles rund läuft. Warum ärgere ich mich jetzt über den anderen, der so detailverliebt ist und damit den kompletten Prozess aufhält? Warum schafft es dieser Typ immer noch mich zu provozieren? Warum könnte ich den harmoniebedürftigen Kollegen noch immer auf den Mond schießen? Auch wenn wir uns daran stoßen, dass wir uns als mehr oder weniger hochentwickelte Homo sapiens in Zeiten von Agilität noch immer über diese banalen Dinge ärgern, wundert sich der Psychologe kein bisschen: „Angst, Sehnsucht, Hoffnung, Neugierde, Neid, Rivalität, Aggression – all das soll plötzlich weg sein, weil wir jetzt in Teams arbeiten?1

Agilität führt auf die Sachebene zurück – aber verhilft der menschlichen DNA nicht zu einem Sprung

Selbstverständlich tragen agile Herangehensweisen dazu bei, Konfliktpotentiale zu verringern, indem sie die menschliche Interaktion in Strukturen bringen und möglichst auf die Sachebene zurückführen. Bei Agilität geht es um Effizienz und um die bestmögliche Befriedigung von Kundenbedürfnissen – dafür wird versucht, Störfaktoren und Konflikttreiber wie Hierarchien, Seilschaften, Abteilungsdenken, Eigeninteressen oder ähnliches nach Möglichkeit aus der Welt zu schaffen. Dieser Zugang ist prinzipiell gut nachvollziehbar und richtig, löst aber trotzdem keine zwischenmenschlichen Konflikte, keinen Mangel an Vertrauen und verringert keine persönlichen Vorbehalte und Befindlichkeiten oder Ängste. Dafür ist auch ein zweiminütiges Blitzlicht-Slot am Beginn genauso wenig ausreichend wie kostenlose vegane Snacks, unternehmensinterne Fußballturniere oder Brown Bag Vorträge. All diese Bestrebungen tragen dazu bei, eine Kultur im Unternehmen zu schaffen, die von Gleichberechtigung, gegenseitigem Respekt, Vertrauen und Ergebnisorientierung geprägt ist, verhelfen aber der menschlichen DNA nicht zu einem Sprung. Vielmehr lassen sie durch das Aufbrechen bestehender Strukturen und die daraus häufig resultierende Orientierungslosigkeit Menschen mit den tief verankerten Bedürfnissen nach Sicherheit und Zugehörigkeit im Regen stehen. Wir Menschen werden ohne die Fähigkeit uns selbst zu ernähren geboren. Wir sind von der ersten Minute unseres Lebens auf die Zugehörigkeit zu anderen Menschen angewiesen. Wird dieses Grundbedürfnis nicht erfüllt, reagiert unser Körper darauf – auch noch im Erwachsenenalter. In dieser Lebensphase allerdings nicht mehr mit Gebrüll, sondern mit einer deutlich verminderten Leistungsfähigkeit. Wie Studien zeigen ist der Verlust von Zugehörigkeit keinesfalls als lapidar abzutun. Nicht umsonst verwendet unser Gehirn dieselben neuronalen Netzwerke, um den Verlust von Verbundenheit und körperlichen Schmerz zu verarbeiten2. Ein gebrochenes Herz kann einen Menschen damit gleichermaßen aus dem Gefecht setzen, wie ein gebrochenes Bein. Zieht man all diese Dinge in Betracht und gesteht man sich ein, dass wir Menschen uns zwar in vielen Dingen weiterentwickelt haben, im Grunde unseres Wesens aber immer noch den Steinzeitmenschen gleichen, ist es wohl wenig verwunderlich, dass agile Arbeitsweisen und Strukturen hier keine konfliktfreie Zone zaubern können. 

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Thomas Würzburger zeigt in der „Agilitätsfalle“ auf, welche Fehlannahmen und Fallstricke der Agilitätsbewegung zugrunde liegen und beschreibt zugleich die unerfreulichen Konsequenzen für den Menschen, wenn man Agilität zu Ende denkt. Er erzählt dabei aus seinem Erfahrungsschatz und zeigt authentisch Parallelen zwischen erlebten Eruptionen und aktuellen Disruptionen in unserer Wirtschaft.

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Grundlegende Veränderungen für Führungskräfte

Agilität fordert nicht nur Geführte, sondern insbesondere Führungskräfte. Von letzteren wird ein völlig neues Führungsverständnis gefordert, das Führung nicht nur unter grundlegend neuen Vorzeichen (Vertrauen statt Kontrolle, Selbstorganisation statt Command-and-Control, Empowerment statt Alles-im-Griff-haben) möglich macht, sondern auch mit neuen Konfliktpotentialen umgehen muss. Eines dieser neuen Konfliktpotentiale entsteht direkt an der Kundenfront: Dort, wo der „empowerte“ Mitarbeiter auf den Kunden trifft, und er es sich zum Ziel setzt, 100%ig kundenorientiert zu sein, entsteht ein Subsystem, dass sich zunehmend von dem Einflussbereich der Führungskraft entfernt. Im Sinne des Kunden wird Entscheidungsbefugnis und Verantwortung jenen Mitarbeitern übertragen, die die fachlichen Kompetenzen bzw. den Draht zum Kunden haben. In der Praxis bedeutet das, dass ein Vertriebsmitarbeiter bei einer herausfordernden Kundenanfrage sich nicht mehr das ok von mehreren Instanzen holen muss, sondern selbst entscheidet, ob der Kundenforderung Rechnung getragen werden kann. Die dadurch entstehenden Subsysteme sind betriebswirtschaftlich natürlich sinnvoll: sie erhöhen nicht nur die Kundenorientierung, sondern auch die Effizienz. Sie schaffen aber auch Systeme, die von Seiten der Unternehmensführung nur mehr sehr schwer zu führen sind. Selbstverständlich entstehen dadurch neue Konfliktpotentiale, da sich Führungskräfte damit nicht mehr nur innerhalb formaler und informeller Machtsysteme in der Organisation bewähren, sondern auch mit diesen Subsystemen, die sich an der Kundenfront entwickeln, zu Rande kommen müssen. Der Umgang mit dieser Herausforderung ist für Führungskräfte zentral, zudem diese kundengetriebenen und auf Effizienz ausgerichteten agilen Subsysteme sowohl an Macht und Einfluss innerhalb der Unternehmen als auch durch deren steigende Eigendynamik an Bedeutung gewinnen werden. 

Was also tun, wenn die Effizienz in der Zusammenarbeit agiler Arbeitskräfte immer noch an diesen menschlichen Dingen leidet und Konflikte eskalieren? Auf alle Fälle nicht überrascht sein, und sich dem Trugschluss hingeben, dass wir in agilen Strukturen keine Konflikte mehr zu lösen hätten.

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Agilitätsfalle #2: Die Generationen-Falle

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Das Feuer löschen! Konfliktdynamik – ein Teufelskreis

Rainer Buchner: Was braucht der Mensch aus Sicht der Psychologie

Deloitte Development (Hrsg.) (2018): The Adaptable Organization. Harnessing a networked enterprise of human resilience


Quellen: 

1Setting Milestones (Hrsg) (2019): Agile Salzburg. Rainer Buchner. Was braucht der Mensch aus Sicht der Psychologie? Aufgerufen am 20.01.2019, https://www.youtube.com/watch?v=3GSePRbMKgI

2 Purps-Pardigol, Sebastian (2015): Führen mit Hirn. Mitarbeiter begeistern, Unternehmenserfolg steigern. Campus, Frankfurt. S. 57f und 70f

3 Amir Rahnema  und Tara Murphy et alteri; Deloitte Development LLC.(2018): The Adaptable Organization, Harnessing a networked enterprise of human resilience

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